Der Bundeskanzler zeigte sich optimistisch nach dem Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas: Er hoffe, dass sich Jüdinnen und Juden in Deutschland wieder sicherer fühlten, »dass auch diese unerträglichen antisemitischen Zwischenfälle der Vergangenheit angehören, zumindest deutlich kleiner werden«, sagte Friedrich Merz (CDU) dem ARD-Hauptstadtstudio am 9. Oktober. Und: »Es gibt keinen Grund mehr, jetzt für Palästinenser in Deutschland zu demonstrieren.«
Ein paar Tage später äußerte sich der Beauftragte der Bundesregierung gegen Antisemitismus ähnlich. Er erwarte einen Rückgang von antisemitischen Straftaten und Vorfällen. Die Entwicklung müsse genutzt werden, um Prävention in Schulen und politischer Bildung voranzutreiben, sagte Felix Klein der »Rheinischen Post«.Prognose unklar
Prognosen sind derzeit schwierig.
Noch ist allerdings unklar, wie es mit dem Abkommen und einem Friedensprozess in Nahost tatsächlich weitergeht – zwei Jahre nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem daraus folgenden Gaza-Krieg. Fachleute sagen, dass entsprechend auch Prognosen darüber, wie sich die Zahlen antisemitischer Delikte und Vorfälle in Deutschland entwickeln, derzeit schwierig sind.
»Das Gaza-Abkommen und die Freilassung der Geiseln sind für Jüdinnen und Juden weltweit eine große Erleichterung und ein Grund zur Freude. Wie sich die Zahl antisemitischer Vorfälle in Deutschland entwickeln wird, werden aber erst künftige Auswertungen zeigen können«, sagt der Sprecher des Bundesverbandes der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (Rias), Marco Siegmund, auf Anfrage der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Versammlungen mit antisemitischen Inhalten hätten nach der Unterzeichnung des Abkommens nicht einfach aufgehört. »Die Feindschaft gegenüber Israel verbindet weiterhin Akteure aus unterschiedlichen politischen Lagern, die auch jetzt aktiv bleiben«, so Siegmund. Auch was Versammlungen anbelangt, sei es noch zu früh, Aussagen über den Fortgang zu treffen.Ruf nach weiterer Aufmerksamkeit
Es brauche weiterhin eine hohe Aufmerksamkeit und Sensibilität, mahnt Siegmund und betont: Antisemitismus habe das Leben von Jüdinnen und Juden bereits vor den Massakern der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 geprägt und unsicherer gemacht.
2024 wurden 8627 Fälle dokumentiert – ein Anstieg um fast 77 Prozent
Das Bundeskriminalamt verzeichnete bei den antisemitisch motivierten Straftaten im vergangenen Jahr einen Höchststand mit rund 6200 Delikten. Zum Vergleich: 2023 waren es etwa 5200. Rias registriert darüber hinaus auch Vorfälle, die keine Straftaten sind. 2024 wurden demnach 8627 Fälle dokumentiert – ein Anstieg um fast 77 Prozent.
Was die weitere Entwicklung angeht, zeigt sich auch die Berliner Beratungsstelle Ofek abwartend bis skeptisch. Der Gaza-Krieg sei nicht der Grund für antisemitische Mobilisierung gewesen, sondern ein Anlass und ein Ventil, sagt Sprecher Alexander Rasumny der KNA. Direkt nach dem 7. Oktober 2023 habe die Beratungsstelle einen starken Anstieg an Fällen nach antisemitischer Gewalt und Diskriminierung erlebt. Im ersten halben Jahr nach dem 7. Oktober hätten die Mitarbeitenden in über 1.300 Fällen beraten, so Rasumny. Von Oktober 2023 bis September 2024 seien es 1858 Fälle gewesen.Zahlen auf hohem Niveau
Die Zahl der Beratungsanfragen ging den Angaben zufolge seitdem etwas zurück, bleibt aber konstant auf einem hohen Niveau. Von Oktober 2024 bis März 2025 habe Ofek in 661 Fällen umfassend beraten, erklärte der Sprecher. Beratungszahlen für das gesamte Jahr von Oktober 2024 bis September 2025 sollen Ende Oktober veröffentlicht werden.
Von alleine würden solche Haltungen nicht verschwinden.
»An der Entwicklung der Beratungszahlen lässt sich erkennen, dass das Fallaufkommen weitaus höher ist als vor dem 7. Oktober und sich bereits vor den Massakern und Angriffen der Hamas im stetigen Wachstum befand«, betonte Rasumny. Verändert habe sich allerdings, dass die Vorfälle gravierender und bedrohlicher geworden seien - und ein »enthemmtes Gewaltpotenzial« zeigten.
»Die antisemitischen Reaktionen auf den 7. Oktober und den darauffolgenden Krieg wirkten als ein Katalysator für die Ausbreitung und Normalisierung antisemitischer Narrative«, so der Sprecher. Von alleine würden solche Haltungen nicht verschwinden –»und bei der nächsten Gelegenheitsstruktur wieder zu antisemitischen Entladungen und zu erneutem Anstieg der Fallzahlen führen«. Dagegen könne aber eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung helfen.